Man könnte derzeit meinen, die Welt steht Kopf: Die Themen prasseln mit einer nie dagewesenen Mannigfaltigkeit und Komplexität auf uns ein. Flüchtlingskrise, Rechtsruck, Digitalisierung, Industrie 4.0, Trump und Klimawandel sind nur ein paar Beispiele dafür.

Sicher gab es auch früher schon große Umwälzungen und chaotische Zeiten, aber die Schnelligkeit, in der sich heute unsere Welt verändert, ist enorm, ob das jetzt kosmische, geomagnetische oder sonstige Gründe hat.

Ich beobachte dabei vor allem zwei Reaktionen: Viele stecken entweder den Kopf in den Sand und tun so, als ginge es immer so weiter. Oder sie verfallen in Aktionismus und kämpfen um den Status Quo, als sei der ein endlos dehnbarer Zustand, den es um jeden Preis zu verteidigen gilt.

Wo man auch hinsieht, suchen Menschen nach Stabilität und wenden sich Bewegungen und Personen zu, die ihnen diese Stabilität versprechen. Aber wie soll man denn auch reagieren, wenn nichts mehr sicher ist, oder besser: wie kann man überhaupt reagieren?

Die Antwort heißt Unsicherheitstoleranz.

Aber bevor ich erkläre, was das sein soll und wie man die bekommt, kurz zu meiner eigenen Geschichte. Ich bin ohne Schilddrüse zur Welt gekommen und damals war das noch relativ exotisch – ich war der erste entdeckte Fall in ‚meiner’ Geburtsklinik. Die Ärzte konnten meinen Eltern – beides übrigens ebenfalls Ärzte – schlicht nicht sagen, wie ich mich entwickeln würde, und ich glaube, ich hatte deshalb so was wie eine ‚Wild Card’.

Da waren keine großen Erwartungen (so wie bei anderen Arztkindern, die später alle doch bitte mal die Praxis übernehmen sollten), die waren erst mal nur froh, dass ich eine normale Schule besuchen konnte und keine Anzeichen gezeigt hatte geistig oder körperlich unterentwickelt zu sein.

Das hat mich geprägt und mir viel Freiheit geschenkt, weil ich so nie Angst vor dem Scheitern hatte. Dazu kamen die Abenteuerlust und das Fernweh, die ich von meinem Vater mitbekommen habe.

Ich bin dann als Jugendliche und junge Frau immer in alles reingesprungen, bin früh Mutter geworden, habe Jahre im Ausland gelebt und war in der all der Zeit nicht einziges Mal festangestellt und das, obwohl ich es sogar immer wieder versucht hatte.

Freiheit statt Planbarkeit

Mir wurde erst viel später klar, dass ich das nie wirklich wollte. Ich zog schon immer die Unsicherheit und die damit verbundene Freiheit der Planbarkeit vor, weshalb ich lange nicht verstand, wieso sich so viele Menschen so große Sorgen um ihre Zukunft machten.

Ich musste erst jahrelang als Coach und Trainerin arbeiten, bis ich endlich verstand, woran das lag, und wie ich Menschen helfen konnte: Indem ich andere dabei unterstützte, Unsicherheit auszuhalten.

Ja, nicht nur auszuhalten, sondern ihr Potenzial zu sehen, wie das z. B. auch die Philosophin Natalie Knapp tut. Sie beschäftigt sich viel mit dem Thema Unsicherheit und hat dazu ein spannendes Buch geschrieben: „Der unendliche Augenblick: Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind.“*

Keine Angst vor dem Scheitern

Unsicherheitstoleranz also. Ein sperriger Begriff für etwas so Wichtiges, oder? Und was genau ist das jetzt?

Zwei Fragen an dich, um es dir ganz schnell zu erklären:

  1. Was würdest du tun, wenn du sicher wüsstest, was dabei rauskommt?
  2. Was würdest du tun, wenn du wüsstest, du könntest nicht scheitern?

Unsicherheitstoleranz bedeutet keine Angst vor dem Ergebnis zu haben und sich nicht vor dem Scheitern zu fürchten. Unsicherheitstoleranz ist die Voraussetzung für Mut.

Das Gegenteil davon, UnsicherheitsINtoleranz, ist eine Schwester der Angst. Um Unsicherheit zu vermeiden, wird sie immer versuchen den Status Quo aufrecht zu erhalten. Das führt nur leider zu Unzufriedenheit und innerer Unruhe.

Sie hält dich auch davon ab gute Entscheidungen zu treffen, weil gute Entscheidungen oft mutig sein müssen. UnsicherheitsINtoleranz führt zu Selbstzweifeln und sie kann uns sogar krank machen.

Auf der anderen Seite, wenn du Unsicherheit aushalten kannst, dann kannst du dein Potenzial voll ausschöpfen. Ohne Angst vor Fehlschlägen kannst du endlich das Leben führen, das dir, deinen Werten und alles, was dich ausmacht, entspricht.

Unsicherheitstoleranz ist wie ein Muskel

Die gute Nachricht ist, dass man Unsicherheitstoleranz lernen kann, sie ist vergleichbar mit einem Muskel. Es gibt tolle Techniken für den Alltag, wodurch sich schnell neue Gewohnheiten aufbauen lassen. Hier sind gleich zwei effektive und bewährte Übungen:

  1. Das nächste Mal, wenn dir etwas Sorgen macht, kannst du den Endpunkt identifizieren, den absoluten Worst Case. Oft ist der Worst Case dann nämlich gar nicht so bedrohlich. Es ist meistens die Unbekannte in der Gleichung, das gesichtslose Übel, das uns am meisten Angst einjagt. Wenn wir den Endpunkt kennen, können wir uns schon mal vorsorglich Lösungen für dieses Szenario überlegen.
  2. In dieser Übung geht es darum, in deinen Schmerz hineinzulaufen und durchzugehen. Ein Schmerz kann dabei sein, etwas zu tun, vor dem du dich fürchtest, also die viel beschworene Komfortzone zu verlassen bzw. zu erweitern. Ungewissheit ist nämlich auch nur ein Schmerz, und je öfter du die Erfahrung machst, dass du auf der anderen Seite stärker herauskommst, desto leichter fällt dir der Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit und desto mutigere Entscheidungen kannst du treffen.

Ich habe einen Traum.

Ich träume davon, dass immer mehr Menschen lernen mit Ungewissheit leben zu lernen und sie nicht mehr glauben, sich an den Jetzt-Zustand klammern zu müssen.

Ich bin davon überzeugt, dass unsere Welt eine offenere und gerechtere wäre, wenn wir uns nicht von Angst leiten lassen, sondern unsere unendlichen Möglichkeiten erkennen – oder um es mit der Schriftstellerin Margaret Drabble zu sagen:

„When nothing is sure, everything is possible“.